Kopfradio - Leseprobe


 

 

 

Kapitel 1

Ella-Sophies Welt



In ihrem Zimmer – der Fernseher läuft. 

Im Badezimmer – das Radio läuft. 

In der Küche – die Anlage läuft. 

Zwischen den Räumen läuft Ella-Sophie. 

Sie schwirrt hin und her. Sie ist spät dran für die Arbeit. Eine Zimmertür öffnet sich zum klangdurchfluteten Flur. 

„Woah, Ella! Kannst du vielleicht ein einziges Mal nur in einem Raum ein Gerät laufen lassen? Und mach die scheiß Türen zu! Ich war gestern weg und muss erst nachmittags zur Vorlesung. Da hätt’ ich gern was von.“

„Sorry, Nic. Bin gleich weg. Ich back dir am Wochenende ’nen Kuchen!“ Ein verschlafener, strubbelig-blonder Boxershortsträger mit ordentlichem Sieben-Tage-Bart lehnt sich aus dem Türrahmen und knurrt sie mit zusammengekniffenen Augen an.

„Mit doppelt Schoko diesmal! Und jetzt mach den Scheiß leiser! Wie hältst du das bloß aus?“ Ella drückt ihm einen Knutscher auf die Wange.                   

„Wie hältst du es bloß ohne aus?“ Er grunzt, zieht die Schultern hoch und sich selbst zurück in sein Zimmer. Die Tür fällt zu. Aus dem dritten WG-Zimmer kommt der Ruf von Hanna: 

„Das ist ja immer noch nicht aus! Ich will Brownies!“ Während sie das Badradio ausstellt, flötet Ella: „Mach ich!“


Ella-Sophie Kolibri, die eigentlich Ella Sophie Kolibri (ohne Bindestrich) heißt (aber das verraten wir keinem), mag es nicht, wenn es still ist. Sie hasst es, wenn es still ist. Warum das so ist, weiß sie selbst nicht, aber das ist doch eigentlich ziemlich egal. Stört ja keinen, und wenn doch, backt sie einfach mal wieder einen Kuchen. Den kann sie auch als Entschuldigung backen, wenn sie sich mal wieder verspätet hat, denn es wäre schmeichelhaft zu behaupten, dass Ella selten spät dran ist, aber so spät wie heute ist es doch ziemlich selten. Es war einfach noch so warm und kuschelig im Bett. Die Sonne hatte sich durch den nervigen Knick in der Jalousie gemogelt und sie an der Nase gekitzelt, während im Radio Here comes the sun* lief, allerdings die sanftere Version von Nina Simone – das war so schön! 

Morgens muss es ein Oldie-Sender sein, nichts bringt sie besser in den Tag.  Da wird man nicht gleich von „wam, wam, wam“ und „pow, pow, pow“ erschlagen – wobei ja gegen ein bisschen „wam, wam, wam“ und „pow, pow, pow“ zum richtigen Zeitpunkt gar nichts einzuwenden ist, heute Abend zum Beispiel. Es ist Freitag. Der Tag der Erlösung. Der Tag, auf den jeder hinarbeitet. Der Tag, dessen Arbeitszeit nie kurz genug und dessen Feierzeit nie lang genug sein kann. Der Tag, nein, das Gefühl „Freitag“ ist es, was Ella unter der Woche am Leben hält. Einfach alles vergessen – während des Abends die ganze Woche und am nächsten Tag die Hälfte des Abends im Schnitt. Aber jetzt ist nicht Freitagabend, sondern Freitag früh und somit der Morgen des stressigsten Tages der Woche bei ihrem geliebten Arbeitgeber Die gute Marketingagentur. Ja, die heißt wirklich so. Das soll irgendwie clever sein, von wegen schnörkelloses, effektives Marketing, das auf den Punkt genau das bringt, was der Kunde will, und das auch noch sympathisch – oder  „bla, bla, bla“, wie Ella findet. 

 Sie hätte ja einen besseren Namen für den Laden: Die 5-4-3-2-1 Agentur – pitcht, als hätte das Team die fünffache Besetzung, stellt in Rechnung, als wären es viermal so viele, verteilt die Arbeit auf drei Köpfe (ja, egal wie groß das Projekt ist), bezahlt, als wären maximal zwei im Team (schließlich ist mindestens einer Praktikant), und erwartet, dass die Mitarbeiter nur einen Sinn im Leben haben – die Arbeit!  Ja nee, ist klar. Das scheint der Preis dafür zu sein, in einer hippen Berliner Agentur zu arbeiten.


* Der Song entstand übrigens als George Harrison die Arbeit bei Apple Corps Ltd.  an einem Frühlingstag schwänzte. Er besuchte Eric Clapton, schnappte sich einer seiner Gitarren und schrieb den Song in dessen Garten.